Kurt Bartel - eine Lichtgestalt

(Trauerrede anlässlich der Beisetzung in Leipzig)


Für mich war Kurt Bartel eine Lichtgestalt, als Künstler, als Mensch, und ich hatte die Ehre, ihn kennenzulernen. Das war am 22. Juli 2015. Was ich an diesem Tag erlebte, lässt sich nur mit einem Wort beschreiben: Offenbarung. Dass in Leipzig, der Geburtsstadt von Hans Hartung, dem Wegbereiter der informellen Malerei, etwas von ähnlicher Qualität anzutreffen wäre, war schlicht nicht denkbar. Und doch – da war er: ein 86-jähriger Mann, seit 1994 in Leipzig, voller Energie und da waren sie: seine Bilder, die ältesten von 1956; Sprachlosigkeit. Ich kam mir vor wie ein Archäologe, der die Ausgrabungsstätte seiner Träume findet.

In den folgenden 8 Jahren haben wir uns oft getroffen, in der Ausgrabungsstätte, im Atelier, um seine Arbeiten zu betrachten und darüber zu reden, und um zu diskutieren, über Kunst, Künstler und das Elend der Welt. Im Laufe der Zeit habe ich mehr und mehr verstanden, warum Kurt Bartel malte und was. Denn das Licht war sein Thema, es in Farbe zu übersetzen seine Berufung. Darüber möchte ich im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit sprechen.

„Farben sind Körper des Lichts.“ (Max Bense)

Das lichtüberflutete Ibiza war die erste Station seiner künstlerischen Reise ans Licht. Hier malte er noch nach der Landschaft – Steine, Küste, Gebäude – bereits im Duktus der Tachisten, ausgehend vom Fleck entwickelt sich die Komposition. Das Gespräch, die Diskussion mit Kollegen bedeutete ihm sehr viel – immer wieder berichtete er mir davon. Er traf neben vielen anderen auch Antoni Tàpies, den wohl bedeutendsten Spanischer Maler unter den Abstrakten. In Madrid und Barcelona stellte er aus. Es ist das sich am und mit dem Gegenstand verhaltende Licht, das ihn inspirierte, geradezu aufforderte zu malen, unaufhörlich, fast schon manisch – das sollte sich sein Leben lang nie ändern.

Doch erst in der Begegnung mit einer Schrift Anfang der 60-ger Jahre erfuhr Kurt Bartel die bis dahin vermisste Erklärung für sein Denken im Malen: „Aufstand des Geistes“ von Max Bense - für Kurt Bartel buchstäblich eine Erleuchtung. Ich zitiere aus dem Kapitel „Ur und die Farben“: „Das Licht ist die eigentliche, unmittelbare Sinnlichkeit der Welt, die tiefste, die inbrünstigste und schöpferischste, die alle Formen bildet. Die Farben sind ihre Grade. Die höchste Integration der Farbe ist das Licht, und die höchste Integration der Form ist der Raum. Darum ist das reine Licht die Farbe des reinen Raums. Ja, das Licht ist der Raum selbst.“

Kurt Bartel änderte fürderhin Palette und Malstil. Dicke Ölfarben und Sand verlassen das Atelier, stark verdünnte Ölfarben oder Acryl sind fluider, besser geeignet für Kreationen neuer, gestisch intensiver Gebilde. Er nennt sie „Lichtknoten“. Im September 1962 zeigte Kurt Bartel in seiner 2. Soloausstellung in der Berliner Galerie Diogenes die ersten „Lichtknoten“. Eberhard Roters, der spätere Gründungsdirektor der Berlinischen Galerie, schieb im Katalogtext: „Kurt Bartels Stil hat eine überraschende Wendung genommen. Die Arbeiten, die erst vor einem Jahr in denselben Räumen ausgestellt waren, sahen ganz anders aus. Dennoch verraten beide Gestaltungsweisen bei genauem Hinsehen die gleiche Hand und den gleichen Geist.“

Die Einführung in diese Ausstellung hielt kein geringer als Will Grohmann, einer der einflussreichsten Kritiker zeitgenössischer Kunst und über fünf Jahrzehnte hinweg Schlüsselfigur der europäischen Kunstszene.

„Es gibt immer etwas Neues, aber es ist immer Kurt Bartel.“ (Will Grohmann)

Als er im Vorfeld der Ausstellung Kurt Bartel in seinem Berliner Atelier besuchte, sagte Will Grohmann: „Das erinnert mich alles an Cézanne.“ Das mag vorerst überraschen. Klarer wird die Aussage vielleicht, wenn man den Blick auf die links ausgestellte Arbeit aus dem Jahr 1960 betrachtet.

Auffällig ist die Verwendung von Grau in den verschiedensten Variationen von Blaugrau bis hin zu fast Schwarz. Man glaubt mystische Figuren gleichsam in Stein gehauen zu entdecken. Flecken blutrot und sonnengelb geben dem Bild Spannung und Blickachse zugleich – eine aufregende Arbeit trotz des als langweilig verfemten und hier geradezu dominanten Grau. Und jetzt möchte ich Paul Cézanne zitieren: „Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler.“ Vielleicht war es genau dieses Bild, welches Will Grohmann an Cézanne erinnerte.

Wechseln wir den Blick auf die rechte Seite. 

In dieser Arbeit finden wir alle Farben wieder, wenngleich in einem völlig anderen Licht. Selbst die mystische Figur ließe sich erkennen, obschon auf den Kopf gestellt. Dabei könnte man meinen, das eine Bild sei düster und somit pessimistisch und das andere strahlend hell und somit optimistisch. Ich bin sicher, dass Kurt Bartel keine Gemütszustände im Sinn hatte, wenn er malte. Ich denke, er hielt es auch hier mit Max Bense: „Das reine Licht ist das wunschlose – aber die Farben sind ein Spiel des Glücks…“. Ich sollte nicht unerwähnt lassen, dass das Bild in diesem Jahr, also 2023 entstand. Und ich behaupte, dass Kurt Bartel als Maler das erreicht hat, was Johann Wolfgang von Goethe als das „Urphänomen“ bezeichnete. Das Urphänomen war für Goethe die äußerste Grenze menschlicher Erkenntnis und sollte die Wesenszusammenhänge der Welt in reiner Form anschaulich machen.

„Farbe... ist Urphänomen wie die menschliche Kreatur. Menschliches bedeutet immer Zwiespalt aus Geist und Seele.“ (Max Bense)

Der Zwiespalt aus Geist und Seele Goethe machte ihn im Faust zum Thema.
Mephisto stellt sich Doktor Faust im Studienzimmer vor:
„Ich bin ein Teil des Teils, der Anfang war.
Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar,
Das stolze Licht, dass nun der Mutter Nacht
Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht,
Und doch gelingt’s ihm nicht, da es, so viel es strebt,
Verhaftet an den Körpern klebt.
Von Körpern strömt’s, die Körper macht es schön,
Ein Körper hemmt’s auf seinem Gange,
So, hoff‘ ich, dauert es nicht lange
Und mit den Körpern wird’s zu Grunde gehen.“

Finsternis und Licht, die zwei Urphänomene im ewigen Streit um den konturierenden Körper, mithin: Entkörperung gegen Verkörperung. Johann Wolfgang von Goethe als Autor der „Farbenlehre“ bekämpfte seinerzeit mit aller Polemik Isaac Newtons Erkenntnisse über Zustand und Zusammensetzung des Lichts. Newtons physikalischer und sein metaphysischer Aspekt des Lichts galten für Goethe als unvereinbar. Ich denke, dass Kurt Bartel das differenzierter sah, beendet doch Max Bense seinen Essay versöhnlich mit den Worten: „Jedes Urphänomen offenbart sich als Schöpfung. … Farbe und Licht sind unmittelbar schöpferisch. Einheit von Auge und Welt. Einheit von Goethe und Newton.“

Finsternis ist nicht einfach das Schlechte, Licht ist nicht einfach das Gute. Kurt Bartels Verarbeitung des Lichts ist nicht als Vorgang einer Geburt zu verstehen, in der das Werk ‚das Licht der Welt‘ erblickt. In Bartels gestischer Malerei ist das Werk vorhanden, in dem es entsteht und zwar permanent. Das erklärt, warum Kurt Bartel wieder und wieder übermalte, Bilder drehte, weiter übermalte usw., was dem ungeübten Auge verunmöglicht, das Entstehungsjahr eines Bildes oder gar das Alter des Malers zum Zeitpunkt der Schöpfung einzuschätzen.

„Das Leben ist es, das auch ins Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen.“ (Friedrich Nietzsche)

Kurt Bartel arbeitete unentwegt an seinem Thema. Es ließ ihn nie in Ruhe. Das mag Bewunderung auslösen, für ihn war es je nach Gemütslage befriedigend, unvermeidlich oder eine elende Quälerei. Diese Quälerei abmildern, konnte nur einer: Gustav Mahler. Kurt Bartel hörte erstmals Mahlers Sinfonien im Radio. In seinem neuen Refugium im Österreichischen Mollmannsreith traf ihn nach eigener Aussage Leonard Bernsteins Einspielung wie ein Schlag. Mahler wurde sein Lieblingskomponist, die Musik sein Ruhepunkt. Man ist geneigt, Friedrich Nietzsche im Zwiegespräch zu zitieren: Bartel auf der einen Seite: „Meine Gedanken sind Farben!“ Mahler auf der anderen: „Meine Farben sind Gesänge.“ Wie müsste man sich eine Begegnung der Drei wohl vorstellen? Wahrscheinlich sehr intensiv…

Der wahre Genius eines Künstlers zeigt sich oft im Prophetischen. Lichtknoten: sie kommen in der physikalischen Welt tatsächlich vor, sind Gegenstand jüngster Forschung im Teilgebiet der Photonik. Wissenschaftler sprechen von Freiheitsgraden, Modulation und Strukturierung des Lichts. Ein direktes Anwendungsgebiet bezeichnen die Forschenden der Universität Münster als optische Pinzette. Eingefangene Lichtpartikel werden auf eine Kreisbahn gezwungen und beginnen dort mit gleichmäßiger Geschwindigkeit um das Strahlzentrum zu rotieren. Veröffentlichte Abbildungen ähneln auf verblüffende Weise den Lichtknoten Kurt Bartels. Kurt Bartel - ein Visionär? Darüber mögen Kunsthistoriker befinden.

Kurt Bartel, so sagte ich einmal zu einem Journalisten, hätte ein Großer werden können. Das war Unsinn. Kurt Bartel war ein Großer, eine Lichtgestalt. Mit seinen Kompositionen belichtete er die Leinwand. Dass ihm zu Lebzeiten eine angemessene Würdigung nicht zu Teil wurde, hat er nun mit vielen anderen Künstlern gemeinsam. Das mag bitter klingen, aber ich bin mir sicher, Kurt Bartels Licht leuchtet weiter und weiter.

Ich verneige mich in Dankbarkeit vor einem großen Künstler.


Frank Berger
Leipzig, 8. August 2023