Licht und Sinnlichkeit - Max Bense

Das Licht ist die eigentliche, unmittelbare Sinnlichkeit der Welt, die tiefste, die inbrünstigste und schöpferischste, die alle Formen bildet. Die Farben sind ihre Grade. Die höchste Integration der Farbe ist das Licht, und die höchste Integration der Form ist der Raum. Darum ist das reine Licht die Farbe des reinen Raums. Ja das Licht ist der Raum selbst.

Wir erinnern uns eines Begriffs aus der Thermodynamik: des absolut schwarzen Körpers, der nichts mehr reflektiert oder durchlässt, sondern jeden strahl absorbiert. ... Schwarz ist ein Ende. Im Schwarz hört alles Licht auf, in dem alles Licht aufgenommen wird, Fülle - aber Untergang zugleich. Der Gegensatz dazu wäre - physikalisch gesprochen - zweifach: ein Körper, der alles reflektiert, und ein Körper, der alles durchlässt, Spiegel und vollkommenes, absolutes, ideales Glas. Wir sehen den Gegensatz jetzt deutlich: Dunkel und Helle bedeuten eigentlich Absorption und Durchlass. Es kann nicht heißen: Schwarz und Weiß, sondern Schwarz und absolute Durchsicht. Das heißt Entkörperung und Verkörperung. Denn Körper entstehen erst dadurch im Raum, dass das Licht ihn durchstrahlt. ... Das Licht schafft den Raum und aus dem Raum schafft das Licht wieder die Verkörperung, die Körper. ... Die Farben sind die Körper des Lichts. Wenn der Raum sich verkörpert, entsteht Substanz. Wenn das Licht sich verkörpert, entsteht Farbe.

Das Licht ist die Farbe des Raums. Mit den Farben wird das Licht substantieller. Farben sind Körper des Lichts.

Wo die Kontur stirbt - da ist Licht. Die Kontur schwindet aus der Farbe erst bei den Monets und Corinths, den Impressionisten und Pointilisten. Hier soll das Weiß der Leinwand oder des Holzes noch die Kontur, die Linie also zum Zerfall bringen und den Stoff noch überwinden. Man spürt die Wahrheit der feinen Einsicht Gides, alles „Weiße sei lichtgewordener Stoff“. Denn tatsächlich ist das Weiß noch Stoff. Er zerfällt erst, wenn er Licht geworden ist. Das Licht ist entkörperter Raum. Die Wahrheit ist also: wo etwas ins Auge dringt, da ist auch Farbe. Aber auch Licht. Das Licht ist das „Ins-Auge-dringen“ selbst. Die Farbe ist das „Was“ dieses Vorgangs. Das Licht schenkt den Raum. Die Farben schenken die Körper, die Linien und den Stoff. Aber „Dasein“ ist die unendliche Verschlungenheit all dieser Phänomene, und wer Seiendes malt, kann nur dann die reine Linie gestalten, wenn er das Bild des Raumes wiedergeben will, und muss dann die reinen Farben sprechen lassen, wenn er die Dinge und Körper im Raum entstehen lassen will.

  

aus „Aufstand des Geistes“ 1935 - Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart Berlin